Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Ganz
normale Helden
Nach dem Amoklauf
am 11. März 2009 in Winnenden sind viele Nothelfer über ihre
Grenzen gegangen: Eine Würdigung am Beispiel der Polizei
Von Peter Schwarz,
Waiblinger Kreiszeitung, 11.03.2010
Bei allem Entsetzen,
aller Trauer, die der 11. März 2009 über die Menschen gebracht hat:
Es gab Gegen-Erfahrungen der Menschlichkeit. Sie sind den vielen
Helfern zu danken, die im Einsatz für andere über ihre Grenzen
gingen. Zum Beispiel: die Polizei und ihre drei Beamten, die als
erste zum Tatort eilten.
Ernstfall
Die ersten drei
Tobias Obermüller,
Polizeihauptkommissar, 41 Jahre alt.
Thomas Schnepf,
Polizeihauptmeister, 50 Jahre alt.
Sebastian Wolf,
Polizeikommissar, 29 Jahre alt.
Am Morgen des 11.
März sitzen sie beisammen und planen die Streifendiensteinteilung.
Eine erste Tour haben sie schon hinter sich, seit 6 Uhr sind sie
unterwegs. Es ist ruhig im Winnender Stadtrevier, ein sonniger Tag.
Aus der Notrufzentrale in Waiblingen kommt eine Meldung: „Amoklauf
in der Albertville-Realschule.“
Vermutlich ein
Fehlalarm, das kommt vor. Auch bei „Banküberfällen“ stellt sich
oft heraus, dass bloß eine Putzfrau versehentlich einen roten Knopf
gedrückt hat.
Obermüller lässt
einen Schrei los, Kollege Wolf, der sich auf der Toilette die Hände
wäscht, hört „irgendwas mit Amoklauf“ und stürmt heraus,
Kollege Schnepf schlüpft in seine Jacke. Während der Fahrt fangen
sie einen weiteren Funkspruch auf, zwei Verletzte, heißt es. Es
könnte doch ein Ernstfall sein.
Sie tasten sich
nicht bedächtig vor, so viel Zeit wollen sie nicht verlieren, sie
parken direkt vor der Schultür: auf dem Präsentierteller.
„Maximales Risiko“, werden Polizeianalytiker später sagen.
Und nun müsste
ihnen eine schreiende Menge in panischem Durcheinander
entgegenschwappen, so sehen es die einschlägigen Polizei-Szenarien
vor, so war es an der Columbine Highschool. Aber es ist alles ganz
ruhig. Doch falscher Alarm?
Sie betreten das
Gebäude: ein Flur zur Rechten, ein Flur zur Linken, eine Treppe,
eine Galerie, tote Winkel; und Türen, Türen, Türen. Sie tasten
sich vorwärts, einander Schutz gebend, in einem eingeübten
Bewegungsmuster. Sie müssen in der Lage sein, gedankenschnell zu
handeln – und tausend Dinge abzuwägen: Was, wenn sie schießen –
und eine der Polizeikugeln durchschlägt eine dünne Leichtbauwand
und tötet einen Unschuldigen? Was, wenn plötzlich einer mit einer
Pistole auf sie zustürzt – und es ist ein Lehrer, der den
Amokläufer entwaffnet hat? Auch wenn die Nerven wie wundgescheuert
sind: Sie dürfen unterm Anspannungsschmerz nicht zucken.
Aus den Funkgeräten
knistern Satzfetzen mit wechselnden Personenbeschreibungen, der Täter
sei schwarz gekleidet, er trage einen Flecktarnanzug, er sei um die
20, er sei 30, er habe einen Vollbart, nein, Koteletten. Kann das
überhaupt einer sein? An der Columbine waren es zwei.
Manchmal reißt der
Funkkontakt ab, nur noch ein Rauschen ist zu hören. Digitalfunk? Das
Land hat dafür bislang kein Geld übrig gehabt.
Sie hören Schüsse.
Oben an der Treppe ist für Sekundenbruchteile schemenhaft eine
Gestalt zu erkennen. Eine Kugel jagt dicht am Kopf von Wolf vorbei.
Sicher, sie haben
Schutzwesten an, aber 60 Prozent des Körpers bleiben unbedeckt, auch
der Kopf – und der geriete, falls sie nun die Treppe hochzugehen
wagten, als Erstes ins Schussfeld. Schutzhelme? Gehören genauso
wenig wie Digitalfunk zum Ausrüstungsstandard, den die Politik ihnen
zubilligt.
Sie überwinden
dennoch Stufe für Stufe.
Als sie oben sind,
ist kein Täter in Sicht. Auf dem Gang liegen Tote.
Der Schütze ist
weg. Er musste sein Mordtreiben abbrechen und ist aus der Schule
geflohen vor den Beamten.
Tobias Obermüller,
Thomas Schnepf, Sebastian Wolf: Am Morgen des 11. März haben sie
vielen Menschen das Leben gerettet, indem sie ihr eigenes in die
Waagschale warfen.
Training
Wie die Polizei
sich vorbereitet hat
Helden: Das ist ein
großes Wort. Obermüller, Schnepf und Wolf sind sturznormale
Polizisten. Einer liegt ein paar Kilo über dem Athletengewicht,
einem anderen ist anzuspüren, dass er jetzt lieber im vertrauten
Streifenwagen säße als beim beklommen machenden Gespräch mit
Pressemenschen und Vorgesetzten. Helden? Bei dem Wort rutschen sie
unwohl auf dem Stuhl herum.
Und doch haben sie
getan, was sie getan haben. Warum? Es gibt darauf zwei Antworten.
Für dramatische
Interventionen in zugespitzter Lage – Geiselnahme, Bankraub – hat
die Polizei Spezialeinsatzkommandos: sorgsam ausgewählte Profis,
körperlich extrem durchtrainiert, mental außerordentlich belastbar,
besonders geschult, vorzüglich ausgestattet. Ausnahmesituationen
sind ihr Berufsalltag.
Als aber die
Analytiker frühere Amokläufe sezierten, erkannten sie: Hier gilt
es, „sehr, sehr schnell zu intervenieren“, sagt der Waiblinger
Polizeidirektor Peter Hönle. Zu warten, bis das SEK angereist ist,
hieße, viele Tote in Kauf zu nehmen. Die erstbesten Polizisten am
Tatort müssen versuchen, dem Mörder in den Arm zu fallen.
Die Polizeidirektion
Waiblingen hat aus dieser Erkenntnis schon vor Jahren die Konsequenz
gezogen: Auch wenn so ziemlich jedes Revier unter Personalknappheit
und Massen von Überstunden ächzt, durchläuft seit 2006 jeder
Einzelne, vom Leiter der Direktion bis zum Streifendienstler, ein
spezielles Zusatztraining, das dem einen Zweck dient: bereit zu sein
für den Fall, von dem alle dachten, er würde nie eintreten.
In dem Training,
sagt Hönle, kommt es zu einer „extrem hohen Identifikation des
Probanden mit dem Szenario“: Einsatz-Situationen werden so
authentisch simuliert, dass das Bewusstsein für ihre Irrealität
zerbricht, es entsteht „eine Dynamik“, sagt Thomas Schöllhammer,
Leiter der Kripo Waiblingen, „wo Sie zwischen Training und
Ernstfall nicht mehr unterscheiden können“. Auf einer Leinwand
sind Szenen zu sehen, auf die es zu reagieren gilt. Mal ist Schießen
überlebensnotwendig, mal wäre Schießen fatal. Der Trainingsraum
ist mal dunkel, mal grell ausgeleuchtet – aber vielleicht erlischt
im nächsten Moment das Licht. Mal ist es furchtbar still, mal dröhnt
derartiger Lärm, dass eine Verständigung kaum möglich ist. Auf dem
Boden liegt ein blutig geschminkter Trainer – „da schauen Sie an
sich runter“, erzählt Ralf Michelfelder, Leiter der
Polizeidirektion Waiblingen, „und müssen das Opfer, das sich an
Ihr Hosenbein klammert, wegstoßen“. Denn solange der Polizist
niederkniete und eine Wunde zu stillen versuchte, könnte der Täter
weiter morden.
Die Polizisten
werden systematisch so heftigem Stress ausgesetzt, dass manchen der
Schweiß die Kleider an den Leib kleistert. All das, sagt Hönle,
dient dazu, „eine Erfahrungsschublade im Gehirn anzulegen, die man
im Ernstfall aufziehen kann“.
Warum konnten
Obermüller, Schnepf und Wolf tun, was sie getan haben? Antwort eins
lautet: weil sie sich intensiv vorbereitet haben, gegen jede
Wahrscheinlichkeit.
Aber das beste
Training, sagt Ralf Michelfelder, ändert nichts daran, dass „das
Risiko unterm Strich nicht kalkulierbar ist“. Was die drei
Polizisten getan haben, „geht über das hinaus, was wir unseren
Leuten abverlangen können“. Mit welcher Unbedingtheit setzt jemand
sein Leben aufs Spiel, um das anderer zu retten? Es gibt dafür keine
Regel. „Hier sind die Anordnungsbefugnisse erschöpft, und jetzt
kommt es auf das an, was der Einzelne darüber hinaus leistet“; wie
weit er sich hineinwagt in den „Bereich der Aufopferung“.
Antwort zwei lautet:
Es war eine „Entscheidung, die die Kollegen allein aus ihrer
Motivation heraus und aus ihrem Berufsethos getroffen haben“.
Struktur
Das Chaos nicht
zulassen
Dass am 11. März in
Winnenden nicht das helle Chaos ausbrach, ist für Laien im
Nachhinein kaum zu begreifen; wie die Polizei die Situation
gemeistert hat, wirkt im Rückblick wie ein logistisches Wunder.
Binnen kürzester
Zeit fluten die ersten Kräfte heran, und immer neue folgen im
Minutentakt: Beamte aus Waiblingen, Göppingen und Esslingen, vom
Landes-, vom Bundeskriminalamt und von der Landespolizeidirektion
Stuttgart, Beamte in Uniform, Beamte in Zivil. Am Ende sind es 800.
Die Einsatzleiter
müssen in einer Mischung aus Erfahrungswissen und
Improvisationsvermögen aus dem Nichts heraus eine Struktur aufbauen,
in der sich jeder umstandslos aufgehoben findet, jeder weiß, was er
zu tun hat.
Rettungssanitäter,
Ärzte, Seelsorger eilen herbei, Eltern, vor Sorge von Sinnen, suchen
ihre Kinder, Presseleute bahnen sich Wege – es ist, sagt Peter
Hönle mit den nüchternen Worten des Einsatztaktikers, ein
„ungeheures Menschenaufkommen mit unterschiedlicher
Interessenlage“. Diese Situation gilt es „zu klären und zu
strukturieren“: Betreuungsmaßnahmen anlaufen lassen, Gebäude
kontrolliert evakuieren, Angehörige versorgen.
Dem Kollegen
beistehen, der am Tatort erfährt: Seine Frau, die hier unterrichtet
hat, ist tot.
Und es gilt, „ein
weiteres Szenario in der Stadt zu verhindern“. Denn zunächst ist
nur so viel klar: Der Täter ist weg, geflüchtet Richtung
Krankenhaus oder Stadtmitte, niemand weiß Genaues. Bewaffnete
durchstreifen die Stadt, viele in Zivil, sie kennen einander oft
nicht einmal. Wenn einer die Nerven verliert, schießt er womöglich
auf einen Kollegen.
Bei der
Krankenhauszufahrt kommt ein Schwarzgekleideter auf ein paar
Polizisten zu. Er hält einen Gegenstand in der rechten Hand, unten
aus der Faust ragt etwas, das aussieht wie ein Pistolengriff. Jemand
schreit: „Der hat eine Waffe, der hat eine Waffe!“ Die Beamten
legen an, sie brüllen „Hände hoch!“
Der Mann gehorcht.
Die „Pistole“ ist ein Schlüsselbund, der „Griff“ ein
Leder-Etui.
Die Tage danach:
Beerdigungen sind zu begleiten und zu schützen, die richtigen Worte
sind zu finden im Gespräch mit Hinterbliebenen, die Polizisten sind
„Tag für Tag bis in die Nacht hinein bis unter die Haarspitzen im
Stress“, erzählt Rolf Böskens, Leiter des Reviers Winnenden. Die
50-köpfige Ermittlungsgruppe häuft binnen eines halben Jahres 4000
Überstunden an.
Die
Kriminaltechniker arbeiten zwölf, vierzehn Stunden pro Tag am
Tatort, sie rekonstruieren die Flugbahn jeder einzelnen Kugel. Sie
betreten die Schule durch den Hinterausgang, verlassen die Schule
durch den Hinterausgang, so vertieft sind sie in ihre Arbeit, dass
sie nicht wissen, was der Rest der Republik sieht: Am Abend des
dritten Tages geht einer von ihnen vor das Gebäude – und bleibt
staunend stehen vor einem Meer aus Kerzen. Er geht zu den Kollegen
und sagt: „Kommt, schaut euch das an.“
Später sitzen sie
beisammen, jeder spricht aus, was ihn umtreibt. Manche weinen.
Ralf Michelfelder
sagt: „Für uns war der Einsatz eine Selbstverständlichkeit. Aber
keine Alltäglichkeit.“ Das ist sehr bescheiden formuliert.
„Pannen“
Behauptungen und
Verdrehungen
Und dann kam das
Geschwätz von den „Polizeipannen“ auf. Bei der immer
verzweifelteren Hatz nach exklusiven Stoffen und „Enthüllungen“
stürzten sich manche Medien förmlich auf Details, die sich als
Missgeschicke hindrehen ließen.
Peter Hönle gibt
ein Beispiel: Ein Wendlinger Kollege konnte den Mordschützen
stellen, wagte sich, obwohl er beschossen wurde, aus der Deckung, um
freie Sicht zu haben und zielen zu können – und traf auf eine
Entfernung, „wo jeder Fachmann sagt, Hut ab“, traf den Amokläufer
ins Knie, traf ihn so, dass Mediziner später urteilten: Nach aller
fachlichen Logik hätte der Verletzte bewegungsunfähig sein müssen.
Tim K. aber feuerte
weiter, der Polizist musste sich wegducken. Der Amokläufer entkam
und tötete zwei weitere Menschen.
Danach schrieb der
„Focus“ von einer „folgenschweren Panne“ und behauptete: „Das
Blutbad im Autohaus von Wendlingen hätte verhindert werden können.“
Peter Hönle: „Mit
dieser veröffentlichten Meinung, die andeutet, er hat nicht genug
getan, muss der Kollege jetzt leben.“
Ralf Michelfelder
ist ein leiser Mann, für einen Menschen in Uniform wirkt er fast
irritierend sanft. Weil ein hoher Repräsentant einer wichtigen
Institution nichts sagen sollte, das er später zurücknehmen müsste,
sind Michelfelders Sätze diplomatisch präzise abgezirkelt und
zwingen oft dazu, die Botschaft zwischen den Zeilen zu finden. Aber
über das Geraune von den Polizeipannen sagt er: „Das hat den
selbstlosen Einsatz der Kollegen diskreditiert. Ich fand das sehr
diskreditierend. Wir haben immer schon auf die nächste
Online-Vorabmeldung gewartet, in der die nächste ehrabschneiderische
Behauptung steht.“
Es tröstet, dass
die Pannensucher nicht das letzte Wort behalten haben. Michelfelder
sagt: „Dankschreiben sind täglich stapelweise bei der Polizei
eingetroffen.“
Wunden
Mit den
Schreckensbildern leben
Ein Polizist ist oft
mit Bedrückungen konfrontiert, die nie in die Schlagzeilen gelangen.
Da ist ein Suizid, den er verhindern will und doch mit ansehen muss.
Oder er hört via Funk, ein Kind sei verunglückt, er fährt zum
Unfallort; und da liegt ein verbogenes Fahrrad, der Polizist denkt:
Das sieht aus wie das von meinem Sohn.
„Wir
haben niemand schonen können nach Winnenden“, sagt Ralf
Michelfelder, „wir haben von vielen alles gefordert.“ Das war
„nicht strittig, nicht disponibel“.
Aber „dem einen
oder anderen haben wir vielleicht auch etwas zu viel zugemutet“.
Manche Kollegen
haben bis heute damit zu kämpfen. Sie sind in Kur oder arbeiten in
einem Schonraum, leisten Innendienst. Es gibt Polizisten, die immer
wieder gesagt haben, mir geht es gut, alles in Ordnung, ich komme
klar mit den Bildern vom 11. März.
Und dann geschieht
irgendetwas – ein Mensch nimmt sich das Leben, ein verbogenes
Fahrrad liegt auf der Straße – und eine verborgene Seelenwunde
bricht auf.
Es gibt für solche
Situationen „Konflikthandhaber“ bei der Polizeidirektion,
Kollegen, die eine Fortbildung durchlaufen haben. Wer will, kann sie
jederzeit kontaktieren, an den Vorgesetzten vorbei. Ralf Michelfelder
sagt: Es ist kein Zeichen von Schwäche, wenn „wir den Nimbus
abstreifen, ein Polizist ist hart“.
Thomas Schnepf,
Polizeihauptmeister: Er hat Zeitung gelesen, ferngesehen, im Internet
gesurft, nach jeder Information gegriffen. Vielleicht, wenn man alles
weiß, kann man damit fertig werden.
Tobias Obermüller,
Polizeihauptkommissar: Er hat nichts gelesen, nicht gesurft, nichts
angesehen, hat lange Spaziergänge gemacht mit seinem Hund.
Vielleicht, im Rhythmus der Schritte, kann das „starke
Wehmutsgefühl“ zur Ruhe kommen.
Sebastian Wolf,
Polizeikommissar: Er setzte sich eines Morgens hin und übereignete
all die Gedanken, die in seinem Kopf kreiselten, „einem Blatt
Papier“. Er schrieb und schrieb, er schrieb es sich von der Seele.
Tage nach dem 11.
März kam eine vollkommen fremde Frau auf Tobias Obermüller zu, nahm
ihn in den Arm und sagte unter Tränen: „Sie haben meiner Tochter
das Leben gerettet.“
Der Riss
Ein Nachsatz
Eine Zeile des
Liedpoeten Leonard Cohen lautet: „There is a crack in everything.
That’s how the light gets in.“ Es geht ein Riss durch jedes Ding.
Und durch diesen Riss kann das Licht dringen.
Es fällt schwer,
angesichts des 11. März 2009, der das Leben so vieler zerrissen hat,
vom Licht zu sprechen. Und doch darf man sagen, im Respek
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